Defizite in bayerischen ANKER-Zentren

München, 26.09.2019 - Anlässlich der heutigen Anhörung des Ausschusses für Verfassung, Recht, Parla-mentsfragen und Integration zum Thema „ANKER-Einrichtungen in Bayern“ verweist die Freie Wohlfahrtspflege Bayern auf einige Missstände in den bayerischen ANKER-Zentren.

 

Die Freie Wohlfahrtspflege bietet in den ANKER-Einrichtungen in Bayern eine unabhängige, fachlich versierte Beratung und Betreuung für die dort untergebrachten Menschen an. Basierend auf diesem umfassenden Kenntnisstand nimmt die Freie Wohlfahrtspflege Bayern Stellung zum Fragenkatalog, der bei der o. a. erörtert wird.

Die Vorsitzende der Freien Wohlfahrtspflege Bayern, Frau Brigitte Meyer stellt fest: „Unser Hauptkritikpunkt an der gesamten ANKER-Konzeption ist die vorgesehene, extrem lange Aufenthaltsdauer, die nicht nur in Einzelfällen ausgeschöpft wird. Da aber für Personen aus sog. „sicheren Herkunftsstaaten“  und Dublin-Fälle gar keine Verteilung mehr aus dem Erstaufnahmebereich heraus in Folgeunterbringung (GU oder dezentral) vorgesehen ist und zudem versucht wird, auch Menschen aus Ländern mit einer vermeintlich schlechten oder unbekannten „Bleibeperspektive“ möglichst bis zu einer Abschiebung in den Zentren zu belassen, gibt es regelmäßig auch Fälle, in denen die Menschen länger als 24 Monate dort untergebracht sind, teilweise sogar bis zu 3,5 Jahren.“

Für die Freie Wohlfahrtspflege Bayern wird unter dem Aspekt der Menschenwürde eine so lange Aufenthaltsdauer in diesen Zentren unter den gegebenen Umständen für nicht tragbar erachtet. Sie rät dringend zu einer Rückkehr zu einer möglichst kurzen Aufenthaltsdauer in den Aufnahmeeinrichtungen (max. 3 Monate).

Die Freie Wohlfahrtspflege weist insbesondere darauf hin, dass im Koalitionsvertrag der Bundesregierung die Einführung einer unabhängigen Asylverfahrensberatung enthalten sei. Es sollten die positiven Erfahrungen des Modellprojekts von 2017 aufgegriffen und in das Asylverfahren standardmäßig implementiert werden. Leider hat sich die Bundesregierung dann doch dafür entschieden, dass die Asylverfahrensberatung nicht durch die Wohlfahrtsverbände, sondern durch das BAMF selbst erfolgen soll und bereits im vergangenen Frühjahr gestartet wurde.

Frau Brigitte Meyer kritisiert dieses Vorgehen: „Eine unabhängige, einzelfallbezogene Beratung durch jene Instanz, welche auch die Asylanträge entscheidet, ist schlicht unmöglich und zudem mit dem Prinzip rechtsstaatlicher Gewaltenteilung und Subsidiarität nicht vereinbar. Ebenso, wie eine anwaltliche Beratung und Vertretung nicht durch das entscheidende Gericht erfolgen kann, so können Entscheider des BAMF keine individuelle, objektiv unabhängige asyl- bzw. aufenthaltsrechtliche Beratung erteilen“ so die Vorsitzende der Freien Wohlfahrtspflege Bayern.

Zudem können in der qualifizierten Beratung der Verbände der Freien Wohlfahrtspflege auch Alternativen zum Asylverfahren aufgezeigt und angebahnt werden. Zugleich verfügen die Beraterinnen und Berater aufgrund ihrer generalistischen Ausbildung über Qualifikationen und Fähigkeiten, die weit über die rein rechtliche Betrachtung des Einzelfalls hinausgehen und sind eher in der Lage, besonders vulnerable Personen (z.B. aufgrund von Krankheit, Schwangerschaft, LGBTIQ, Einschüchterungen, Zwangslagen etc.) zu identifizieren und ihnen entsprechende, bereits existierende Wege gangbar zu machen.

Festgestellt wird seitens der Freien Wohlfahrtspflege, dass es bis dato kein systematisches Vorgehen für eine Identifizierung besonders vulnerabler Asylsuchender gibt. Von Seiten der Behörden liegt kein Konzept für ein planmäßiges und strukturiertes Vorgehen vor, selbst wenn besondere Bedarfe identifiziert worden sind. Insofern muss das Bayerische Schutzkonzept in diesem Sinne konkretisiert werden.

Bezüglich der medizinischen Versorgung in den ANKER-Zentren stellt die Freie Wohlfahrtspflege Bayern nachfolgende Missstände fest:

  • Die gesundheitliche Versorgung sieht in den ersten 15 Monaten des Aufenthalts nur eine medizinische Notversorgung vor. Die Besuche von Fachärzten und Spezialisten sind ohne fremde Unterstützung nicht organisierbar. Schwere oder chronische Erkrankungen oder Behinderungen kommen bei Kindern in ANKER-Einrichtungen häufig vor. Hierfür sind die Einrichtungen nicht eingestellt und bieten deswegen nicht die passende Umgebung. Pflege und bedarfsgerechte Versorgung dieser Kinder ist für die Eltern nur mit fachlicher Unterstützung und auch dann sehr mühsam und langwierig zu organisieren.
  • Kinder- und familiengerechte Räume sowie eine ruhige Lernumgebung gibt es meist nicht und Freizeitangebote nur in sehr geringem Maße.
  • Der Anspruch eines Kindes auf den Besuch einer Kindertagesstätte und damit auf Bildung und Förderung im Vorschulalter wird kaum umgesetzt.
  • Die Schulbildung findet vorwiegend isoliert auf dem Gelände der ANKER-Einrichtungen statt. So kommen Kinder in der Regel nicht mit einheimischen, gleichaltrigen Kindern in Kontakt und kaum aus der Einrichtung hinaus.

Hierzu Frau Meyer: „Das von uns geforderte Gesamtkonzept ‚Kinderrechte, Kinderschutz und jugendgerechte Unterbringung von minderjährigen Flüchtlingen in bayerischen Ankerzentren muss endlich in Angriff genommen werden. Wir bieten hier ausdrücklich erneut unsere Mitarbeit an.“

Abschließend plädiert Frau Meyer für kleinere Einheiten, „die solidarisch über Bayern verteilt werden, in denen die Unterbringung wieder dezentralisiert wird, was aus unserer Sicht deutlich besser funktioniert hat als die Konzentration in großen Einrichtungen. In den dezentralen Unterkünften können professionale und ehrenamtliche Unterstützungssysteme besser organisiert und gestaltet werden. Zudem ist das Konfliktpotenzial deutlich geringer“, so die Vorsitzende der Freien Wohlfahrtspflege Bayern.


Die in der Freien Wohlfahrtspflege Bayern zusammengeschlossenen Verbände sind die Arbeiterwohlfahrt, das Bayerische Rote Kreuz, die Caritas, das Diakonische Werk Bayern, der Landesverband der Israelitischen Kultusgemeinden und der Paritätische Wohlfahrtsverband. In Bayern unterhalten die Wohlfahrtsverbände und ihre angeschlossenen Organisationen rund 14.500 Facheinrichtungen und Projekte im gesamten sozialen Bereich. Sie beschäftigen etwa 190.000 hauptberufliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Zusätzlich engagieren sich im Raum der Freien Wohlfahrtspflege Bayern etwa 250.000 Menschen ehrenamtlich – zum Beispiel in Verbandseinrichtungen oder Kirchengemeinden.